Hitze, Elend, Menschen & Kultur: 12.000 km nach Kathmandu und retour

Thread Status
Hello, There was no answer in this thread for more than 30 days.
It can take a long time to get an up-to-date response or contact with relevant users.
Anzeigen
Vor Jahren hat mein Vater die Hochzeit eines Verwandten fotografiert. Das Gruppenbild hat er mit der Sinar (schwarzes Tuch etc.)gemacht. Aussage von einem Gast: Wenn ich gewusst hätte, dass der eine so alte Kamera hat, hätte ich meine Kodak Instamatik mitgenommen. Ich habe mich gebogen vor Lachen und mein Vater hat ein paar sarkastische Bemerkungen gemacht, wie es so eine Art war.
 
Zuletzt bearbeitet:
Kommentar
Für mich war es sehr interessant, die Negative der Kinderkamera zu digitalisieren - denn die meisten Fotos habe ich dabei zum ersten Mal gesehen. Mein Vater vergrößerte die SW-Fotos im schuleigenen Fotolabor immer selbst (als gelernter Foto-Drogist). Dabei assistierte ich ihm sehr häufig, fand bald Gefallen an der Arbeit im Labor und bearbeitete ihn, damit wir uns nach der Rückkehr nach Deutschland ein eigenes Fotolabor im Keller einrichten. Dort habe ich dann nicht nur SW, sondern auch Abzüge vom Farbnegativ und insbesondere von Dias gemacht.

Zurück zu den Fotos der Instamatic: Da sie natürlich den fotografischen Ansprüchen meines Vater nicht genügten (man sieht ja sehr deutlich, dass nur die Mitte halbwegs scharf ist, der Rest wirkt, als hätte man wie Hamilton Vaseline auf die Linse geschmiert) wurden nur selten Abzüge dieser Negative gemacht.
 
Kommentar
Für die nächste Ertappe muss ich etwas ausholen.

Meine Eltern stammen beide aus großen, weitverzweigten Familien. Eine jüngere Schwester meiner Oma väterlicherseits trat mit 21 Jahren in den Orden "Congregatio Jesu" ein. Dieser geht zurück auf Mary Ward. Sie versuchte zu Beginn des 17. Jahrhunderts, einen Frauenorden ohne kirchliche Klausurvorschriften in Anlehnung an die Jesuiten zu gründen. Sie richtete Häuser für Gefährtinnen ein, verbunden mit Schulen für junge Frauen und Mädchen. Sie gilt als Wegbereiterin einer besseren Bildung für Mädchen. Weltlich wurde ihr Werk oft anerkannt und unterstützt, doch konnte sie zu Lebzeiten keine päpstliche Bestätigung zur Ordensgründung erlangen. Zu ihrer Zeit und noch lange danach wurden die Einrichtungen Institute der Englischen Fräulein genannt. Die päpstliche Anerkennung erfolgte erst 1877. Heute tragen weltweit zahlreiche Schulen ihren Namen. Auch meine Frau war nach der Grundschule Schülerin der Maria-Ward-Schule im pfälzischen Landau.

Unsere "Indertante", wie sie in der Familie immer genannt wurde, arbeitete ab 1938 (sie war damals 21) als Musiklehrerin in Mädchenschulen in Indien. Zunächst in Nainital an der Grenze zu Nepal, ab 1943 in Allahabad (heute Prayagraj) ) im Bundesstaat Uttar Pradesh.
St. Mary's Convent Inter College Prayagraj, Best School in ...smccjallahabad.orghttps://www.smccjallahabad.org
Schülerin dort war auch die in Allahabad geborene Indira Gandhi. Wie unsere "Indertante" war sie Jahrgang 1917.

Oft sahen wir die "Indertante" nicht, durfte sie doch nur alle 8 Jahre der pfälzischen Heimat einen Besuch abstatten. Diese Besuche gerieten jedoch in unserem beschaulichen Dorf jedes Mal zu gesellschaftlichen Großereignissen mit vielen Benefizveranstaltungen für ihre Projekte. Oft war dabei das halbe Dorf auf den Beinen. Und nun wollten wir sie in Allahabad besuchen. Vor der Abreise kündigte mein Vater unseren Besuch schriftlich für "Anfang bis Mitte Juni" an.

Nie werde ich die Szene am Tor des Konvents vergessen. Wir klingelten, eine Ordensschwester kam, wir schilderten unseren Wunsch. Sie verschwand wieder. Einige Minuten später kam die "Indertante". Sie erkannte uns schon von Weitem, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und rief: "Ach Gott, Fritz. In däre Hitz!!"
Das war pfälzisch für "in dieser Hitze!" Fritz ist der Name meines Vaters. Sie bekannte bald, die sie hin und wieder Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache hatte. Die Kommunikation im Orden und mit den Schülerinnen war stets auf englisch. Sie erzählte, sie denke englisch und träume auch englisch. "Nur wann ich schelde muss mach ich dess uff pälzisch." Wenn sie schimpfen muss, tut sie das in ihrer Muttersprache.

Zur Hitze: Eigentlich hätte der Monsun schon einsetzen sollen. Dann hätte es zwar sehr viel geregnet, aber die Temperaturen wären erträglicher gewesen. In diesem Jahr setzte der Monsun einige Tage später als üblich ein.
 
Zuletzt bearbeitet:
Kommentar
Die "Indertante" führte uns durch die Einrichtungen des Konvents, Schule und Krankenhaus. Das Hospital war spezialisiert auf die Behandlung von Leprakranken, die in staatlichen Krankenhäusern nicht aufgenommen wurden.

full



full

Schlafen konnten wir im Konvent. Ich teilte mir ein Bett mit meiner Schwester. Um in der Nacht wenigstens etwas Abkühlung zu bekommen überlegten wir uns eine Strategie: Wir platzierten auf beiden Seiten des Bettes Schüsseln mit Wasser und vereinbarten, dass, wer wach wird, den anderen und sich mit Wasser besprengt. Der über dem Bett sich sehr langsam drehende Ventilator sorgte so für etwas Linderung. Es waren dennoch sehr anstrengende Nächte.
 
Zuletzt bearbeitet:
Kommentar
Ein Tag war für Allahabad vorgesehen, unter der Führung der "Indertante". Ich habe schreckliche Erinnerungen daran und konnte die nächsten Nächte nicht nur wegen der Hitze schlecht schlafen.

full



full


Bettler am Fluss Yamuna

full

Zwei Dinge fand ich besonders schrecklich:

Wir besuchten einen kleinen Hindu-Tempel. Ein Götzenbild war mit einem Gitter versperrt, durch das die Gläubigen jede Menge Geldschein warfen. Die grässliche Figur war übersät mit Geld. Auf dem Weg dorthin lungerten unglaublich viele Bettler, überwiegend erkrankt an Lepra. Warum hat man hier Geld für Götzen, aber nicht für die Menschen?

Ich erbettelte von meinen Eltern etwas Geld. Ich hatte drei besonders erbarmungswürdige Gestalten gesehen, denen ich gerne etwas geben würde. Sie sahen so schlimm aus. Als ich nahte, streckten sie mit kleine metallene Becher entgegen, ich warf das Geld hinein. Als ich dem vermeintlich letzten Geld gegeben hatte, kroch hinter ihnen eine noch erbärmlicher aussehende Gestalt hervor und streckte mir den Becher entgegen. Ich hatte nichts mehr. Diese Szene werde ich nie vergessen können. Ich fühlte mich so hilflos.

Fotografiert habe ich in Allahabad nicht.
 
Zuletzt bearbeitet:
Kommentar
Unserer Tante war bewusst, was sie uns gezeigt hatte. Um auch etwas angenehmes zu bieten, arrangierte sie eine Einladung in eine gut situierte indische Familie, die zu den Wohltätern des Ordens gehörte. Hier wurden wir gut bewirtet. Jedoch muss ich gestehen, dass ich erst sehr viel später ein Fan der indischen Küche wurde.....

full



Hier kann man einen aktuellen Blick auf das Gelände des Konvents und viele seiner Räume werfen:
Virtual Tour
Auch das Musikzimmer, in dem unsere Tante unterrichtete, ist zu sehen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Kommentar
Was für eine beeindruckende und ja sicher auch für dich prägende Reise. Ich kann meinen Respekt dafür leider nur mit den kleinen Symbolen versuchen mitzuteilen. Auch wenn ich wiederhole, ganz herzlichen Dank dafür!
 
1 Kommentar
Christian B.
Christian B. kommentierte
Dem schließe ich mich an.
 
Die SW Bilder haben wirklich Charme. Schade, dass die Farbbilder technisch so gelitten haben.
 
1 Kommentar
Lydian
Lydian kommentierte
Es ist jetzt die dritte unserer Reisen aus der Zeit 1973-78, die ich mir vorgenommen habe. Der Zustand der Dias (alle vom Agfa CT 18) ist recht unterschiedlich. Viele sind nachgedunkelt, bei manchen hat sich die Farb-Balance in Richtung magenta verschoben, einige wenige waren mit den Glasrahmen verklebt und haben dadurch physikalischen Schaden genommen. Seltsamerweise sind z.B. die Afghanistan-Dias aus 1974 besser erhalten als jetzt diese von 1976. Auch wenn ich sie diesmal 4fach habe scannen lassen - und zuvor immer nur 1fach - sind die Resultate schlechter. Vielleicht auch, weil die Filme wochenlang in heftiger Hitze und Schwüle mit auf Reisen waren? An ein klimatisiertes Auto war damals ja nicht zu denken, auch die wenigsten unserer Unterkünfte hatte eine solche Luxustechnik. Alle Diafilme wurden nach der Rückkehr von Tehran nach Deutschland geschickt und von Agfa entwickelt. (Wie lange das damals dauerte bis man ein Ergebnis in der Hand hielt!!) Die SW-Filme wurden in einem Labor in Tehran entwickelt. Rückblickend muss ich sagen, dass mein Vater das wohl besser selbst gemacht hätte. Gerade die SW-Filme von dieser Reise sind oft sehr fehlerhaft entwickelt worden, möglicherweise mit minderwertigen bzw. ausgelutschten Chemikalien. Da konnte ich bei den Reisen 1973 und '74 mit deutlich besserem Ausgangsmaterial arbeiten. Leider stimmt bei diesen Reiseberichten die Verlinkung der Fotos nicht mehr. Wenn mir die Administration (hallo @Bettina :) ) wieder Zugriffsrechte einräumen könnte würde ich das demnächst fixen.
 
Lieber Stefan @Lydian,
ich will mich auch einmal ausdrücklich für die Reportage bedanken, auch das Du so offen mit den privaten Aufnahmen bist.
Das ermöglicht eine Reise in eine andere Welt und eine andere Zeit.
So ist Indien heute nicht mehr, so sind wir heute nicht mehr.

Durch die alten Fotos ist das erhalten geblieben und kann 45 Jahre später noch geteilt werden.

Wunderbar.

Ist Fotografie nicht toll?
 
Kommentar
Ich möchte mich ebenfalls ganz herzlich für diese überwältigende Reportage bedanken. Nicht nur für die tollen Bilder, auch für die detaillierten und gleichzeitig mitfühlenden Berichte. Durch solche Reportagen wie die Deine oder etwa aktuelle Motorrad-Reiseberichte von Itchy Boots habe ich mehr (nicht nur) über Indien gelernt, als mir je ein Schulunterricht hätte vermitteln können.
Toll, ich freue mich schon auf mehr!
 
2 Kommentare
Wuxi
Wuxi kommentierte
Toll das Vid von Itchy Boots.
In dem Tempel (ab Minute 18) war ich auch schon mal.
Damals gab es noch nicht diese Plastiktüten, sondern man ging barfuß.

Das war schon etwas krass.
Unser Fahrer hat auch immer betont von Mouse Temple gesprochen. Aber die "Mäuse" sind schon ganz schön groß gewesen :)
 
waxman
waxman kommentierte

Ich möchte hier jetzt nicht unbedingt Werbung für Noraly (so ist ihr Vorname, sie ist Niederländerin) machen, wir sind ja ein Foto- und kein Motorradreiseforum. Aber erstens sind ihre Videos in meinen Augen unglaublich interessant, sie ist m. E. auch eine sehr sympathische Person. Es gibt eine Menge Videos von ihr auf YT und sie hat eine sehr große Fangemeinde. Sie ist z. B. solo von Südamerika bis zum Polarmeer an der Nordgrenze von Alaska gefahren und derzeit ist sie in Afrika unterwegs.
Aber jetzt wieder zurück zu Lydian und seiner unglaublichen Reportage. (y)
 
So ist Indien heute nicht mehr, so sind wir heute nicht mehr.
Das ist mir natürlich bewusst. Dennoch verspüre ich nach wie vor wenig Motivation, diese Gegend nochmals zu besuchen. Meine Frau hat schon lange diesen Wunsch..... Die Reise in den Iran, 33 Jahre nach unserer Rückkehr nach Deutschland
(leider auch hier mit jetzt fehlerhafter Verlinkung der Fotos), habe ich mit Freuden organisiert. Nach Indien zieht es mich nicht.
Unser Sohn ist seit einiger Zeit beruflich sehr häufig in Indien. Allerdings in Kerala, also dem am höchsten entwickelten Bundesstaat. Dort ist auch das Klima deutlich angenehmer als am Ganges. Im August fliegt Simon mit seiner Mutter hin.
 
Kommentar
Ich muss an unsere Zeit im Iran denken und an diesen Spruch des großen persischen Dichters Sa'adi aus der Sammlung "Golestan" (Rosengarten, vollendet im Jahr 1258):

بنی‌آدم اعضای یک پیکرند
که در آفرينش ز یک گوهرندچو عضوى به‌درد آورَد روزگار
دگر عضوها را نمانَد قرارتو کز محنت دیگران بی‌غمی
نشاید که نامت نهند آدمی

"All human beings are members of one frame,
Since all, at first, from the same essence came.
When time afflicts a limb with pain
The other limbs at rest cannot remain.
If thou feel not for other’s misery
A human being is no name for thee."

In dieser Übersetzung wurde das Gedicht vom ehemaligen UN-Generalsekretär Ban Ki-moon während einer Rede zitiert. Es ist das Motto, das in Genf (eingewebt in einen Teppich) den Eingang des Gebäudes der Vereinten Nationen schmückt.
Was ich damals (nicht nur) in Allahabad an Gleichgültigkeit dem Leid der Mitmenschen gegenüber erlebte war für mich unfassbar. Und ist es noch heute. Hier gab es noch "Aussätzige", also Menschen, die man aufgrund ihrer Erkrankung, meist Lepra, aus der Gesellschaft ausschloss. Aussetzte.
 
Zuletzt bearbeitet:
2 Kommentare
J
jockel123 kommentierte
Hat wahrscheinlich auch was mit dem Kastensystem in Indien zu tun Link
 
Lydian
Lydian kommentierte
Um sich über das „Kastensystem“ zu informieren gibt es wahrlich bessere Quellen. Die Sachlage ist sehr komplex. Vielleicht kommen von mir auch noch ein paar Sätze dazu.
 
Von Allahabad (heute: Prayagraj) ging es nach Benares (heute: Varanasi). Sie ist eine der ältesten Städte des indischen Subkontinents und gilt als die heiligste Stadt der Hindus. Von Allahabad waren es nur ca. 150 km Fahrt, im Prinzip immer den Ganges abwärts. Die Strecke führte durch sehr ländliches Gebiet.


full


Hier wurde Stoff für Saris gefärbt und getrocknet. Beides direkt am Fluss...

full



Bewässerung der Felder

full


durch Menschen



full


durch Rinder


 
Zuletzt bearbeitet:
Kommentar
Benares (ich nutze den Namen, den die Stadt trug als wir sie besuchten) gilt als Stadt des Gottes Shiva. Seit mehr als 2.500 Jahren pilgern Gläubige in die Stadt. Besonders erstrebenswert ist für strenggläubige Hindus, hier im Ganges zu baden, hier zu sterben und verbrannt und dem Fluss überantwortet zu werden. Entlang des Flusses ziehen sich kilometerlange, stufenartige, mit vielen kleinen Tempeln bestückte Uferbefestigungen hin, die Ghats, an denen Gläubige im Wasser des für sie heiligen Ganges baden während nebenan die Leichen der Verstorbenen verbrannt werden. Die Asche streut man unmittelbar anschließend, oft noch glühend, ins Wasser. Tote, deren Familien das Geld für das Feuerholz des Scheiterhaufens nicht aufbringen können, werden (wurden?) in Tücher gewickelt und so dem Fluss überantwortet. In Varanasi zu sterben und verbrannt zu werden ist der hinduistischen Mythologie zufolge der Ausbruch aus dem ständigen Kreislauf der Wiedergeburt. Der Ganges dient auch als Waschplatz für die Millionenstadt.

Das alles erzählten uns die Eltern und mein Entschluss stand fest: Bei der Besichtigung der Ghats bleibe ich im Hotel! Ich habe das dann auch durchgezogen und verbrachte viel Zeit mit meinem Fernglas (ein sehr gutes Zeiss) am Fenster und beobachtete verschiedene Greifvögel und Geier, die sich in den Bäumen direkt vor dem Hotel tummelten. Was ich jetzt schildere und zeige habe ich also nicht selbst gesehen. Ich greife auf die Berichte der Eltern zurück.
 
Zuletzt bearbeitet:
Kommentar
Mein Vater hat vor kurzem seine Erinnerungen aufgeschrieben.

"Auf dem Weg zum Ganges saßen und bettelten viele Leprakranke. Wir sahen schreckliche Bilder. Und das alles bei sehr großer Hitze, sehr hoher Luftfeuchtigkeit, viel Dreck und oft sehr unangenehmen Gerüchen. Auf dem Ganges fuhren wir mit einem kleinen Boot und legten hin und wieder am Ufer an."

full



full



full



full



full



full



full
 
Kommentar
"Nicht alle Leichen werden verbrannt. Andere werden, in ein Tuch gehüllt, dem heiligen Ganges übergeben. Als gerade eine Leiche vorübertrieb, langte unser Bootsführer mit der Hand in den Fluss, schöpfte Wasser und trank es. Auf mein entsetztes Gesicht sagte er: 'It's holy water!'"


full



full



full



full

 
Kommentar
-Anzeige-
Zurück
Oben Unten