Den Begriff "Schere im Kopf" finde ich unglücklich. Der suggeriert bei mir immer, dass irgendwem Gehirnzellen weggeschnitten werden.
Aber wenn wir ihn mal hernehmen als Umschreibung für eine Art Vorauswahl, die bei den Berichtenden (ob jetzt Bild oder Text) schon vor der Erstellung eines Beitrags stattfindet, dann bin ich der festen Überzeugung, dass das
a) kein neues Phänomen ist und
b) uns alle ohne Ausnahme betrifft, egal ob wir Inhalte produzieren oder ansehen, lesen oder hören (also wahrnehmen).
Denkt doch mal alleine ans Beispiel Fotografieren, das ist uns allen hier doch wohl am vertrautesten. Schon, wenn ich mich irgendwo positioniere, ein Motiv auswähle und das dann mit bestimmten Einstellungen, Abständen, Lichtsetzungen aufnehme, habe ich meine Vorauswahl getroffen. Schon mit der Konzentration auf dieses eine Motiv habe ich alle anderen möglichen Motive um mich herum ausgeblendet. Und das passiert im Bruchteil einer Sekunde. Ich sehe dieses eine Motiv und hundert andere sehe ich nicht, nehme ich auch im Nachhinein womöglich gar nicht mehr wahr. Ich wage zu behaupten, dass diese Auswahl in 99% der Fälle automatisch passiert.
Wenn ich mir dessen bewusst bin und die Zeit habe, eben genau in dem Bewusstsein mich nach der Aufnahme nochmal nach bisher nicht erkannten Motiven umzuschauen, ist das ein Bonus. Und trotzdem werde ich auch hier wieder x Motive nicht erkennen, die der Kollege oder die Kollegin neben mir aber sieht und fotografiert.
Andersherum als Betrachterin eines Bildes oder Fernsehberichts, als Hörerin einer Nachrichtensendung oder Zuschauerin eines Videos nehme ich auch hier zunächst mal nur wahr, was mir nach meiner bisherigen Erfahrung eingängig ist. Das löst sofort etwas bei mir aus, die Bandbreite reicht von Zustimmung über Gleichgültigkeit bis zu empörter Ablehnung oder vielleicht Freude, Schmunzeln, berührt sein bis hin zu Entsetzen. Und dabei habe ich in aller Regel schon wieder was verpasst, was mein Nebenmann oder meine Nebenfrau aber mitgenommen hat. Am besten redet man also hinterher darüber.
Das komplette Abbild einer Situation gibt es ebenso wenig wie die eine Wahrheit. Weder bei demjenigen, der es produziert noch bei derjenigen, die es wahrnimmt.
Und das ist ja auch kein Problem, denn wir beklagen auf der anderen Seite die Nachrichtenflut und Bilderschwemme. Das Angebot ist doch großartig, verschiedene Quellen miteinander vergleichen ist heute keine Schwierigkeit mehr.
Als diejenige, die morgens eine Zeitung aufschlägt, den Newsartikel auf einer Webseite anklickt oder eine Fernsehsendung sieht, bin ich aber heilfroh, wenn ich nicht ohne Vorwarnung mit visuellen Inhalten "beglückt" werde, die so grausam und entsetzlich sind, dass ich sie nicht oder nur schwer ertrage. Bilder von Leichen, zumal Opfern von Katastrophen oder Gewalt, gehören sicherlich für die meisten von uns zu solchen Inhalten. Mal ganz abgesehen davon, dass meiner Meinung nach auch verstorbenen Menschen ebenso wie ihren Angehörigen ihre Würde nicht genommen werden darf.
Wenn Roessler also Mittel und Wege findet, einen Eindruck vom Geschehen so zu vermitteln, dass es diese Bilder dazu nicht braucht, dann ist mir das sehr recht.
Probiere mal mit Incognito-Fenster den Link zu öffnen.